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The Last Express

 

Auf seiner Reise von Paris nach Konstantinopel rutschte Martin Mirbach von einem Abenteuer ins nächste. Ein Wunder, daß er überhaupt noch lebt!

Broderbund ist zurück! Das kalifornische Label, das in letzter Zeit hauptsächlich durch Veröffentlichungen im Multimedia- und Edutainment-Bereich von sich reden machte, plant noch in diesem Jahr einen Großangriff auf den Spielemarkt. Gefeiert wurde die Wiedergeburt mit einem internationalen Kreis von rund 120 Journalisten, Distributoren und Großhändlern an einem Iauschigen Frühlingsabend in Paris. Bei einer Rundfahrt mit dem legendären Orient Express wurde das Spiel präsentiert, das Broderbund in erster Linie als Höffnungsträger auf dem Spielesektor betrachtet:The Last Express. Heute, nur wenige Wochen nach dieser ersten Präsentation, liegt das Spiel bereits in den Regalen der Händler und wir sagen Ihnen, warum sich der Kauf dieses ganz besonderen Spiels auf jeden Fall lohnt.


Ihr Freund Tyler Whitney, blutig gemeuchelt von einem Unbekannten

 

Gute, alte Zeit?

The Last Express spielt im Juli 1914, also am Vorabend des Ersten Weltkriegs, an Bord des legendären Orient Express. Robert Cath, ein junger Amerikaner, wird von seinem Freund Tyler Whitney gedrängt, ihn in dessen Abteil zu treffen. Cath erwischt den Luxuszug in der sprichwörtlichen letzten Minute und erreicht das Abteil seines Freundes erst während der Fahrt. Als er dann feststellen muß, daß Whitney brutal ermordet wurde, ist es für ein Verlassen des Zugs bereits zu spät. Um den Mord aufzuklären, nimmt Cath die Identität seines Freundes an und gerät immer tiefer in einen Sumpf aus Abenteuern, Liebschaften und politischen Intrigen. Drei Tage und drei Nächte dauert die Fahrt von Paris nach Konstantinopel. Kann Robert Cath in dieser kurzen Zeit den Tod seines Freundes aufklären? Und viel wichtiger: Wird er es schaffen, selbst zu überleben?


Paris, Gare L'Est,
hier beginnt Ihre abenteuerliche Reise

Auf einer Karte können Sie die bereits zurückgelegte
Wegstrecke einsehen
Es versteht sich wohl von selbst, daß Sie als Spieler in die Rolle des ahnungslosen Amerikaners schlüpfen müssen. Und ahnungslos sind Sie zu Beginn des Spiels auf jeden Fall, noch ahnungsloser sogar als die Hauptfigur des Spiels. Denn auch, worin die Verbindung zu dem Toten bestand und welche gemeinsamen Erlebnisse die beiden zum Beispiel auf Kuba teilten, entzieht sich zunächst Ihrer Kenntnis. Jedes kleine Mosaiksteinchen müssen Sie sich selbst erarbeiten, wobei Ihnen zunächst die anderen Reisenden (unwissend und unfreiwillig) behilflich sind. Es scheint, als hätte sich irgend etwas in Tyler Whitneys Besitz befunden, für das einige Mitreisende bereit sind, mehr als großzügig zu bezahlen. Aber was würden sie sonst noch tun, um das Geheimnis an sich zu reißen? Es sind zu viele Details, Konstellationen und Verstrickungen zu berücksichtigen, als daß man sie in einem Review wie diesem wiedergeben könnte. Jede Figur im Zug hat nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern auch eine eigene Geschichte zu erzählen. Steigen Sie ein, fahren Sie mit und hören Sie allen gut zu — es hängt viel von Ihnen ab!

The Making Of...

Um die historische Atmosphäre eines so speziellen Zeitabschnitts so exakt wie möglich wiederzugeben,  war nicht nur ein tiefes Studium der geschichtlichen und politischen Zusammenhänge äußerst wichtig, auch das gesamte Ambiente mußte genau recherchiert werden. Und da fingen die Probleme bereits an. Wie sollte man etwa den Orient Express rekonstruieren, wenn fast sämtliche Teile des Zuges in einem der beiden Weltkriege zerstört en? Zwar fahren heute noch zwei Züge unter der Bezeichnung Orient Express als Touristenattraktion durch die Gegend, allerdings handelt es sich bei einem davon um eine vollständige und bei dem zweiten in großen Teilen um eine Replikation.

Such mich!
Zahlreiche Hinweise finden sich in Dokumenten, die überall im Zug verteilt sind, und aufmerksam gelesen werden wollen - wenn man sie erst einmal gefunden hat.

Da ist natürlich die Korrespondenz mit Ihrem gemeuchelten Freund

Auch in diversen Zeitungsartikeln finden sich wichtige Informationen

Man beachte die Amateuerzeichnungen eines Schaffners

Die Passagierlsite findet sich in der Lektüre eines anderen Schaffners
 

"Es war purer Zufall, daß ein Freund von unserem Projekt hörte und uns erzählte, daß auf einem Abstellgleis in Athen noch ein Originalwaggon vor sich hin rottete", erzählt Chefdesigner Jordan Mechner,"Wir fuhren natürlich sofort dorthin und fotografierten jedes Detail. Natürlich haben wir auch sämtliche authentischen Details aus den restaurierten Touristenzügen berücksichtigt, ebenso wie alles, was wir in der Literatur finden konnten."

"Aber damit nicht genug", beeilt sich Art-Direktorin NicoleTostevin zu ergänzen,"Ob Mobiliar, die Kleidung der Personen, die zeitgenössische Musik oder der vorherrschende Kunststil, wir haben uns bemüht, wirklich jede Kleinigkeit zu berücksichtigen." In der Tat ist es gelungen, die Atmosphäre dieser einmaligen Epoche zu neuem Leben zu erwecken. Schon nach wenigen Minuten im Spiel fühlt man sich direkt in die Zeit der art noveau zurückversetzt. Es liegt neben dieser ungeheuren Liebe zum Detail an zwei weiteren Spielelementen, daß sich der Spieler unmittelbar von einem umfassenden Realismus vereinnahmt fühlt: Dem Ablauf der Handlung in Echtzeit und den natürlichen Bewegungs- und Verhaltensmustern der Figuren.


Nur wenige Randfiguren passen sich so
schlecht der Spielgrafik an wie diese Dame

Sämtliche Räumlichkeiten entsprechen
exakt dem zeitgenössischen Interieur
 

Letzteres liegt an einer speziell für dieses Spiel entwickelten Technik. Es handelt sich bei allen Figuren in The Last Express um Schauspieler, die in historische Kostüme gekleidet und vor der Blue Screen auf Video gebannt wurden. Anschließend wurden die Videos digitalisiert und von einer brandneuen Software in Animationen verwandelt, deren Aussehen auch noch dem typischen art noveau-StiI entspricht. Hier werden Sie erkennen, warum diese Kunstrichtung als Vorläufer der Comics bezeichnet wird. Außerdem konnten so zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Zum einen passen Figuren und Umgebung atmosphärisch einfach besser zusammen, zum anderen war es möglich, eine enorme Spieltiefe auf nur drei CDs unterzubringen.

MuIti-KuIti auf Schienen

Trotz dieser Spieltiefe kommt zu keiner Zeit das Gefühl auf, wirklich lange an einer Stelle hängenzubleiben. Allein die zahlreichen Mitreisenden aus aller Herren Länder garantieren größte Abwechslung. Bei der Sprachausgabe der englischen Version sind schon die deutschen, französischen, russischen oder orientalischen Akzente einiger Gäste die reine Wonne fürs Ohr. Es kommt natürlich auch immer wieder vor, daß andere Figuren sich in Ihrer Landessprache unterhalten. Sobald aber der Inhalt dieser Unterhaltung für den weiteren Spielverlauf wichtig ist, werden automatisch Untertitel eingeblendet. Bleibt zu hoffen, daß diese große Stärke der Originalversion auch in der deutschen Lokalisierung erhalten bleibt.

Nochmals intensiviert wurde der Spielfluß durch zahlreiche Action-Elemente. Natürlich müssen Sie auch in The Last Express wie in jedem anspruchsvollen Adventure knackige Rätsel lösen, versteckte Informationen sammeln oder geheimnisvolle Türen und Schlösser öffnen. Zusätzlich erwarten Sie neben passiver Action, also etwa dramatische Animationen und Explosionen, auch echte Actionsequenzen. Die Messerstecherei in der engen Kabine oder der tödliche Kampf auf dem Dach des rasenden Zuges sind alles andere als leicht zu überstehen und werden wohl von kaum einem Spieler auf Anhieb bewältigt werden können.

Doch auch hier haben die Gamedesigner vorgesorgt. Die Handlung von The Last Express verläuft non-Iinear und, wie gesagt, in Echtzeit. Es kommt also nicht darauf an, in welcher Reihenfolge Sie vorgehen, sondern nur, ob Sie alle Aufgaben in der vorgegebenen Zeit erledigen können — eine Uhr läuft immer mit. Falls Sie während des Spiels einen wichtigen Hinweis verpassen, mittendrin abbrechen müssen oder gar getötet werden sollten, bleibt die Uhr exakt an dieser Stelle stehen. Es ist also nicht nötig, den Spielstand abzuspeichern. Bei einem erneuten Spielstart können Sie entweder nahtlos fortfahren oder die Uhr stufenlos zurückstellen, um sich etwa an dem letzten Zweikampf oder sogar der ganzen letzten Stunde erneut zu versuchen. Im zweiten Fall können Sie natürlich wieder vorspulen, sobald Sie den fehlenden Hinweis gefunden haben. Eine komfortablere Umsetzung der Story in flüssiges Gameplay ist eigentlich kaum vorstellbar.

 

Liebe zum Detail!
Neben einer enorm aufwendigen Recherche steckt auch jede Menge Handarbeit in the Last Express. Immerhin begann die Produktion des Spiels beriets anno 1992.
express1a.jpg (4053 Byte)
Vor der Blue Screen gefilmte
Schauspieler wurden eingescannt
und von spezieller Software in Animationen verwandelt
express1b.jpg (5505 Byte)
Auf einem Abstellgleis in Athen
fand sich ein ausrangierter Original-Speisewagen ...
express1c.jpg (5534 Byte)
.. der ebenso berücksichtigt
wurde wie diese
einsatzfähige Replika
 

Es ist vollbracht

Sie erinnern sich, daß ich The Last Express zu Beginn dieses Reviews als ein "ganz besonderes Spiel" bezeichnet habe? Und da Sie bis hierher gelesen haben, wissen Sie nun auch, was genau so besonders ist an diesem Spiel. Alles in allem handelt es sich hier um ein klassisches Adventure, das neben bahnbrechenden Innovationen im technischen Bereich auch durch viele sehr gute Ideen im Gameplay zu überzeugen weiß.

Um ehrlich zu sein: Es hat mich schon sehr erstaunt, daß gerade ein so großes Software-Haus wie Broderbund nicht alles auf die sichere Karte setzt, wenn es darum geht, erneut im internationalen Spielgeschehen Fuß zu fassen. Sie können getrost davon ausgehen, daß die Produktion dieses Spiels einen Etat verschlungen hat, der gewaltig genug war, um auch ein sehr ausgefeiltes, sehr konservatives und sehr profitables Spiel mit populärer Thematik zu finanzieren. Bisher jedenfalls waren für Innovationen in aller Regel die unabhängigen, kleinen Label zuständig, die (noch) keine Rücksicht auf den "shareholder value" nehmen müssen.

Was ist also von The Last Expresszu halten? Es ist ganz sicher ein Spiel, in dessen Atmosphäre und historische Umgebung man sich erst einmal hineinarbeiten muß.Vielleicht wird auch so mancher Genre-Neueinsteiger mit dem ein oder anderen Rätsel seine Probleme haben. Und wahrscheinlich ist es sogar eine Art Prestige-Objekt. von dem niemals riesige Stückzahlen abverkauft werden können. Aber genau das wäre schade. Denn dieses Spiel hat eine Verbreitung verdient wie kaum ein zweites. So wie im letzten Jahr Baphomets Fluch das Maß aller Dinge war, muß sich nun jedes kommende Adventure an The Last Express messen lassen.Wenn Sie es schaffen, nur die erste Viertelstunde am Ball zu bleiben, wird Sie dieses Spiel nicht mehr loslassen. So lange nicht mehr, bis Sie es komplett durchgespielt haben. Und dazu werden Sie ganz sicher einige Nächte ohne Schlaf auskommen müssen.Viel Spaß dabei!

 

Alternativen:
Baphomets Fluch
Virgin ca. 110 Mark

Versailles 1685
Cryo ca. 100 Mark

Lighthouse
Sierra 119,95 Mark

Hersteller: Broderbund

Preis: ca. 90 Mark

Minimum:
Pentium 60, 8 MB RAM, SVGA, DOS oder Windows 95

Pro
Großartige Atmosphäre
Enorme Spieltiefe
Abwechslungsreiches, flüssiges Gameplay

Kontra
Einige Randfiguren fallen optisch ab

Bewertung:

  • Spiel-/Dauerspaß: 46 von 50
  • Handhabung: 9 von 10
  • Grafik: 17 von 20
  • Sound: 18 von 20
  • Total: 90
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PC Power Juni 1997

 

Adventure-Archiv 04-07-01

 

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