The Last Express Trotz des phänomenalen Erfolges von "Myst" hielt man sich bei Broderbund in Bezug auf Spiele lange Zeit bedeckt. Letzten Monat kam dann Koala Lumpur", und jetzt kommt's knüppeldick: Alles einsteigen zum großen Abenteuer der Orientexpreß fährt in Kürze ab! Mord im Orientexpress Wir schreiben den Juli des Jahres 1914. In Europa und insbesondere auf dem Balkan brodelt es, die Menschen flüstern ahnungsvoll von Krieg. Da begibt es sich, daß ein junger Amerikaner namens Robert Cath ein Telegramm von seinem Freund Tyler Whitney bekommt, in dem er dringend um Hilfe gebeten wird und um Begleitung während einer Fahrt des Orientexpresses. Wegen einer kleinen Verspätung kann Cath den Zug allerdings erst unterwegs besteigen. Er fragt sich zu Whitneys Abteil durch und findet den Freund dort blutüberströmt und offenbar ermordet am Boden liegen.
Daß der Spieler in diesem Drama die Rolle des Robert Caths inne hat, dürfte klar sein. Den Mitreisenden freilich nicht, sie halten unseren Helden nämlich für den verblichenen Freund. Und so macht man sich an die Ermittlungen. Da zu Beginn der abenteuerlichen Reise nur der dürftige Inhalt des Telegramms als Anhaltspunkt dient, ist der erste Abend der Orientierung gewidmet: Wer sind die übrigen Passagiere? Welche Abteile sind von wem belegt? Welche Rolle spielt der geheimnisvolle private Waggon am Schluß des Zuges? Mit wem hatte Tyler Kontakt, bevor er ermordet wurde, und worum ging es dabei? Ja, worum zum Teufel geht es hier eigentlich überhaupt?! Nun, jedenfalls nicht darum, die Welt zu retten oder den Lauf der Geschichte zu ändern - was bei einem Computerspiel heutzutage schon erfrischend originell ist. Wenn schließlich ein kläglicher Rest des Zuges in den Bahnhof von Konstantinopel (das heutige Istanbul) einrollt, werden die Völker Europas also miteinander im Krieg liegen. Und vorher wird sich eine Tragödie entfaltet haben, in deren Mittelpunkt der Feuervogel" steht, ein mysteriöses, ja, geradezu mystisches Kleinod. Dazu kommen noch serbische Nationalisten, eine Operndiva aus Österreich-Ungarn, ein russischer Anarchist, ein deutscher Waffenhändler, ein indischer Adliger, eine Bombe, eine Zugentführung sowie ein Koffer voller Gold. Und eine Liebesgeschichte hat auch noch Platz. Ob Robert Cath hier am Ende zu den Gewinnern gehört oder ob er mit leeren Händen dasteht, das müssen Sie schon selbst herausfinden.
Dem Täter auf der Spur Wie Chefdesigner Jordan Mechner im Interview andeutet, rückt der Mord an Whitney immer mehr an den Rand der Geschichte und erfährt auch erst während der starken Schlußszenen eine fast beiläufige Aufklärung: Soviel ist inzwischen geschehen, daß es' schon beinahe nicht mehr auf ein weiteres Menschenleben ankommt. Um bis hierher vorzustoßen, ist freilich viel zu tun. Manches kann sich der Spieler zusammenreimen, indem er den Protagonisten einfach nur herumstehen oder -sitzen läßt und den Gesprächen der Mitreisenden lauscht. Und vieles kann unternommen werden, was mehr Licht ins Dunkel bringt, aber nicht unbedingt zur Lösung erforderlich ist. Doch letzten Endes kommt es natürlich darauf an, den richtigen" Weg durch die Gänge der Waggons zu finden, denn The Last Express kann auf mancherlei Art mehr oder weniger erfolgreich und mehr oder weniger früh beendet werden. Viele Aktionen sind hier von der mitlaufenden Echtzeituhr abhängig. Doch keine Angst: Falls man einmal feststeckt, darf die Uhr beliebig weit zurückgedreht werden, um genau dorthin zu springen, wo man sich zu der Zeit befand schon erhält man eine neue Chance. Zudem gibt es für die meisten wichtigen Probleme mehr als einen Lösungsweg. So kann man etwa Abteile, für die man sich interessiert, nicht nur ganz normal durch die Tür betreten, sondern oft auch durch ein akrobatisches Kunststückchen von außen durch das Fenster. Überhaupt muß betont werden, daß eigentlich alle Rätsel logisch lösbar sind. Wer mit gesundem Menschenverstand vorgeht und sich fragt, was er denn wohl genau jetzt in Wirklichkeit machen würde, kommt allein damit schon recht weit eine schon fast verloren geglaubte Qualität im Abenteuergenre. An passender Stelle gesellen sich den Knobeleien auch ein paar Actionszenen hinzu. Per Mausklick muß man dann Faustkämpfer, Messermänner oder noch heiklere Gegner niederstrecken. Doch selbst wenn das anfangs nicht gleich perfekt klappt, kommt man auch als Nichtaktionist ganz gut zurecht, sobald man einmal den Bogen raus hat.
Spurensicherung am Tatort Die originelle Optik bedarf einer genaueren Begutachtung: Das gerenderte und komplett begehbare Innenleben der Waggons kontrastiert verblüffend harmonisch mit den gefilmten, dann aber softwaremäßig zu Comicfiguren konvertierten Menschen. Besonders beeindruckend ist deren extrem flüssige und lebensechte Animation. Oft allerdings (insbesondere bei Gesprächen) bedienen sich die Hersteller eines Kniffes, der den Charakter des Spiels noch unterstreicht. Dort gibt es dann keine Animation im eigentlichen Sinne zu sehen, sondern es folgt quasi ein Bild nach dem anderen eben so, als ob man durch ein Comic-Album blättert. Tatsächlich werden sich ältere Abenteurer manchmal nicht ganz zu Unrecht an den frühen Amiga-Klassiker Reisende im Wind" erinnert fühlen. Auch die Ohren kommen voll auf ihre Kosten, und zwar bei toller Begleitmusik und vielfältigen Effekten nebst Sprach-ausgaben. Wer an Abteilen vorbeigeht, kann etwa die drinnen geführten Unterhaltungen belauschen. Zwecks Betonung des bunten Völkergemisches im Zug wurde dabei zu einer überzeugenden Lösung des Sprachenproblems gegriffen: Russen z.B. unterhalten sich auch auf russisch, nur eben deutsch untertitelt. Im Hinblick auf die gut funktionierende Point & Klick-Steuerung schließlich ist The Last Express ein ganz gewöhnliches Adventure; das Inventory zeigt sich sogar immer griffbereit am linken Bildschirmrand. Und es wird nie so voll, daß man den Überblick verlöre ein weiteres Indiz für durchdachtes Spieldesign. (jn) Interview Jordan Mechner, Chefdesigner von The Last Express: ?: Schon vor Ihrer Rolle als Gamedesigner dieses zugigen Abenteuers waren Sie ja kein unbeschriebenes Blatt. Erzählen Sie doch mal. JM: Naja, ich mache schon seit 15 Jahren Computerspiele. Angefangen hat das auf der High School. Später auf dem Co/lege habe ich dann Karateka" programmiert meinen ersten größeren Erfolg. Das war 1984 fünf Jahre später war Prince of Persia" fertig. Anschließend pausierte ich auf einer New Yorker Filmhochschule und begann dann vor mittlerweile vier Jahren mit den Vorarbeiten zum letzten Expreß. ?: Eine beeindruckende Vita. Wie alt sind Sie denn inzwischen? JM: Lockere 32 Jährchen. ?: Daß es in The Last Express" Actionelernente gibt, wundert uns in Anbetracht Ihres bisherigen Schaffens nicht schon eher, daß Sie überhaupt ein richtiges Adventure gemacht haben... JM: Ich suchte nach einer Möglichkeit, auch einmal eine tiefgründige und komplexe Geschichte zu erzählen. Das ist natürlich mit Sport-, Action- oder Hüpfspielen nicht möglich. ?: Nun ist The Last Express ja nicht unbedingt ein Mainstream-Programm. Und auch der persische Prinz war das ungeachtet seines großen Erfolges unter Eingeweihten eigentlich nicht. Mögen Sie keinen Mainstrearn? JM: Ich mag natürlich möglichst hohe Verkaufszahlen, falls das mit der Frage gemeint war. Aber in Wahrheit sind die eben immer erst hinterher bekannt. Und es gibt ja heutzutage nur zwei Möglichkeiten: Entweder man macht den 32. Klon von Myst" bzw. anderen Trendsettern oder man versucht, selber einen Trendsetter zu kreieren. ?: Mit einer Story von 1914? Quasi ein Retro-Trend? JM: Ach, das war eben eine äußerst interessante Zeit, in der eine ganze Epoche vor ihrem Ende stand. Wendepunkte der Geschichte interessieren mich ungemein. ?: Wenden wir uns jetzt punktgenau der erstaunlichen Grafik des Spiels zu. Wie ist es dazu gekommen? JM: Oh, zunächst suchten wir uns nach originalen Waggons des Orient-Expresses die Augen aus. Die meisten sind ja in den Kriegswirren verschollen. Da sie ursprünglich weitgehend aus Holz bestanden, wurden sie wohl verfeuert. Aber dann haben wir mit Hilfe von Eisenbahn-Fanclubs in der Nähe von Athen doch noch welche entdeckt. Nun konnten wir das Innenleben eines solchen Wagens rekonstruieren und als Hintergrund rendem. Für die handelnden Personen suchten wir Schauspieler mit markanter Physiognomie aus und filmten sie vor der Bluescreen. Diese Videos wurden dann mit einem selbstentwickelten Programm, das wir Grab Face" nennen, in kolorierte Comic-Zeichnungen umgewandelt, die sich natürlich umwerfend realistisch bewegen. ?: Wie steht es denn mit anderen historischen bzw. literarischen Vorbildern? Wir denken da natürlich an Agatha Christie und ihren berühmten Mord im Orientexpreß"? JM: Nein, nein und nochmals nein! Ich wünschte, dieser Roman wäre nie geschrieben worden! Das Spiel ist keine einfache ,,Wer-ist-der-Mörder-Geschichte"; es ist ein spannendes, romantisches und mysteriöses Abenteuer vor dem Hintergrund einer unwiderruflich zu Ende gehenden Epoche! Jordan Mechner wird es nicht gefallen, aber wir möchten hier trotzdem noch einmal auf Agatha Christie und ihren Mord im Orientexpreß verweisen. Der weltbekannte Krimi mit Hercule Poirot in der Rolle des Ermittlers ist nämlich nicht nur als Roman oder in (mehrfach) verfilmter Form zu haben, sondern seit kurzem auch als Comic: Francois Riviere als Texter und Jean-Francois Miniac als Zeichner konvertierten den Klassiker. Hierzulande ist der Band für 19,80 DM im Scherz-Verlag erschienen. Ganz persönlich Ich gebe es ja zu: Wenn man erstmal ein paar Jährchen in der Branche ist, fällt es einem manchmal schwer, für neue Spiele noch dieselbe Begeisterung zu entwickeln wie zu Hobby-Zeiten. Umso wunderbarer, wenn dann ab und zu doch ein Programm auftaucht, das einen wünschen läßt, Tage und Nächte dafür und nur dafür Zeit zu haben! The Last Express ist für mich eines der raren Spiele von diesem Kaliber. Verdoomte Neugambler mögen es mir nachsehen, aber kein 3D-Dungeon wird mich jemals derart fesseln können, wie es diese locker als Romanvorlage taugende Geschichte vermochte, Ich hatte keine Ruhe, ehe nicht der Abspann über meinen Bildschirm flimmerte. Das hat zwar leider nicht so lange gedauert, wie ich mir das gewünscht hätte, doch jede Minute hat sich gelohnt! Fazit: Spannendes und ungewöhliches Abenteuer mit hintergründiger Geschichte - und toll gemacht! Grafik: 80% Gesamtwertung: 87% USK-Freigabe: ab 12 Jahren
PC Joker Juni 1997
Adventure-Archiv 04-07-01 |
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