Die Pandora-Akte

Martin Mirbach hat‘s mal wieder geschafft: Ein anderer erledigt seine Arbeit. Diesmal wird ihn der Spaß aber einige Bourbon kosten... !
Ich hatte schon ein paar Drinks zuviel, als mir ein alter Kumpel einen seltsamen Vorschlag machte. Er hieß Martin und verdiente seine Mäuse mit der Schreiberei für eines von diesen neumodischen PC-Magazinen. Ich solle doch einen Artikel für ihn schreiben, schlug er vor, und er würde dann dafür sorgen, daß dieser auch erscheint. Mein Name wäre dann auf einen Schlag in ganz Europa berühmt. Ich weiß, was Sie jetzt denken, und Sie haben recht. Natürlich ist “ganz Europa“ eine Übertreibung, und natürlich ging es ihm nur darum, mir etwas von seiner Arbeit aufzuhalsen. Aber mit einer halben Flasche Bourbon im Bauch sieht man die Dinge einfach nicht mehr ganz so objektiv. AIso machte ich die Sache mit ihm ab.

Tex Murphy, Privatermittler
Der Morgen begann bereits zu dämmern, als wir uns verabschiedeten. Allerdings war ich noch kein bißchen müde und beschloß, sofort mit dem Artikel anzufangen. Ich ging daher nicht nach Hause, sondern in mein Büro. Übrigens befindet sich mein Büro im Hotel Ritz in San Francisco, in der dritten Etage. Aber diesmal liegen Sie falsch. Das Ritz ist beileibe nicht die erste Adresse am Platze, jedenfalls nicht mehr. Früher mag hier vielleicht die High Society ein- und ausgegangen sein, aber heute, im Jahre 2043, ist davon nichts mehr zu spüren. Der Bau rottet vor sich hin, die meisten Zimmer stehen leer, und ich stand bei NiIo, meinem Vermieter, mit 2100 Dollar in der Kreide. Im Augenblick schien er noch zu schlafen, und so gelangte ich ohne die üblichen Drohungen bis an die Tür zu meinem Büro. Obwohl die Schmierschicht auf der Milchglasscheibe seit mindestens einem Jahr nicht mehr entfernt worden war, konnte man lesen, was darunter geschrieben stand: Tex Murphy, lizenzierter Privatermittler.

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und dachte nach.Worüber sollte ich doch gleich schreiben? Ach ja, über die Pandora-Akte, eins von diesen Computerspielen, mit denen dieselben Menschen ihre Zeit totschlagen, die auch Martins Artikel lesen. Da erübrigt sich wohl jeder Kommentar. Dieses Spiel war jedoch etwas besonderes, und zwar weil ich darin vorkomme. Sie finden das ungewöhnlich, ein echter Detektiv in einem Computerspiel? Ist es aber nicht. Dieselben Produzenten hatten vor zwei Jahren schon mal ein Spiel entwickelt, das auf meinen Fällen beruhte. Under A Killing Moon hieß das Ding. Die Hauptrolle, also mein Part, wurde von Chris Jones, dem Produzenten, gleich mit übernommen. Aber was soll ich sagen, er gab einen sehr guten Tex Murphy ab, fast besser, als ich es je gewesen war. Und weil er damals schon so gut war, spielt er mich jetzt schon wieder.

Das Gute bewahren
Überhaupt scheint es eine vorrangige Direktive bei der Entwicklung der Pandora-Akte gegeben zu haben. Alles, was sich in Under A Killing Moon bewähren konnte, taucht auch in diesem Spiel wieder auf. Die gleiche, angenehme Steuerung per Tastatur und Maus, das bekannte und gut durchdachte Menüsystem und natürlich die freie Beweglichkeit in dreidimensionalen Räumen. Never change a winning team. Und noch wichtiger: Auch die triste Atmosphäre, viele der düsteren Schauplätze und meine Nachbarn in der Chandler Street sind wieder mit von der Partie. Chelsee Bando besitzt noch immer den Zeitungsstand von gegenüber und verweigert mir ein Rendezvous. Mein Freund Louie aus dem Stew & Brew an der Ecke serviert weiterhin Gerichte, vor deren Verzehr ich Sie nur warnen kann. Dafür ist er aber immer für einen Tip gut. Und in Rock Garners Leihhaus gibt es an kalten Abenden hin und wieder ein warmes Essen. Sie sehen, es hat sich nicht viel verändert in der leuten Zeit.
Trotzdem gibt es auch Verbesserungen. Der Soundtrack ist diesmal noch eine Spur überzeugender, die Videos und sämtliche Schauspieler wissen zu gefallen, aber vor allem an den Grafiken wurde ausgiebig gefeilt.Was 1994 in Under A Killing Moon noch für Furore sorgen konnte, hätte auch heutzutage niemanden mehr vom Hocker gerissen. Die Frischzellenkur war also nötig, und gelohnt hat sie sich auch. Außerdem gibt es jetzt die Möglichkeit, das Spiel in zwei verschiedenen Modi ablaufen zu lassen. Im Entertainment-Modus sind maximal 1500 Punkte zu erreichen, Tips können gegen ein Entgelt in Form solcher Punkte jederzeit gekauft werden. Im Player-Modus sind mehr als doppelt so viele Punkte zu erreichen und Antworten schwerer zu finden. So gibt die Pandora Akten beiden etwas: Erfahrene Spieler werden an den Rätseln ihre wahre Freude haben, Anfänger finden stundenlange Unterhaltung und können sich hinterher noch einmal im PlayerModus versuchen.

Der Anfang zum Schluß
Oh, Mann, wenn ich mir die letzten Sätze so durchlese, fällt mir auf, daß ich mich fast schon wie Martin anhöre. Und der hat mir das Ganze hier eingebrockt. Ich glaube, es wird Zeit für ein richtiges Frühstück. Irgendwo müssen noch eine alte Flasche Bourbon und ein halbvolles Päckchen Zigaretten herumliegen. Ach ja, bevor ich gehe, will ich Ihnen noch verraten, woran ich in der Pandora-Akte arbeite. Ein komischer alter Kauz hat mich angequatscht und mir von seinem verschwundenen Freund erzählt. Beide seien sie Wissenschaftler, hätten sich aber aus den Augen verloren. Dann hätte er in der Zeitung ein Bild seines Freundes entdeckt, allerdings mit dem falschen Namen darunter. AII seine Nachforschungen hätten nicht gefruchtet, deswegen komme er zu mir. Ein komischer Kerl mit einer merkwürdigen Geschichte, der meine Zweifel aber schnell zerstreute. 4000 Schleifen als Anzahlung sprechen eben eine klare Sprache. Den Rest der Geschichte müssen Sie schon selber rausfinden. Und ich werde mein Geschreibsel jetzt an Martin schicken, Abtippen gehörte nämlich nicht zu unserem Deal.

PC POWER OKTOBER 1996

 

 

Home of Adventure-Archiv

 

 

 

seite gezählt durch: