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AZRAEL'S TEAR
Der Pott von Gott
Viele haben ihn schon gesucht: die Ritter von Artus' Tafelrunde und auch die der Kokosnuß
genauso wie Indiana Jones. Die Rede ist vom Heiligen Gral, einem der sagenumwobensten
Gegenstände der christlichen Kultur. Nun hat auch Mindscape zur Jagd auf den heiligen
Becher gerufen. In AZRAEL'S TEAR suchen Hi-Tech-Archäologen nach dem kultigen
Überbleibsel.
Mit dem Gral ist das so eine Sache. Seit Jahrhunderten sucht jeder namhafte Abenteurer
nach diesem Relikt. Worum es sich bei dem Gral jedoch überhaupt handelt, ist ziemlich
unklar.
Aus der Schule
weiß man, daß der Gral ein Becher sein soll, der jedem, der davon trinkt, ewiges Leben
verspricht. Die wunderbaren Fähigkeiten des magischen Humpens begründen sich darin, daß
in ihm das bei der Kreuzigung Jesu vergossene Blut aufgefangen wurde. Das ist wenigstens
der Wortlaut der christlich-europäischen Legende. Andere Sagen behaupten, daß der Becher
seine therapeutische Funktion dadurch gewann, daß Jesus während des letzten Abendmahls
daraus trank, und wieder andere Theorien besagen, der Gral sei schon lange vor der
Christianisierung bekannt gewesen und schon die alten Kelten hätten an das
lebensverlängernde Gefäß geglaubt.
Vermutlich hat jede Religion der Welt irgendwo eine Nische für irgendein Relikt, das
ewiges Leben verspricht. Sei es nun der Gral, der Jungbrunnen oder der symbolisierte
Uterus einer lebenspendenden Urmutter - die Überwindung des Todes ist ein uralter
Menschheitstraum und wird auch noch zukünftig die Phantasie der Menschen bewegen.
Die Rächer des Bechers
Bei Azrael's Tear steht, wie schon der Name des Erzengels im Titel vermuten läßt, die
christliche Version der Sage im Vordergrund. Im dunkelsten Mittelalter, zur Zeit der
Kreuzzüge, machten sich die ominösen Tempelritter auf die Suche. Dieser seltsame
Geheimbund, gegründet zwölf Jahre nach der Eroberung Jerusalems, war ein dermaßen
verschrobener und geheimnisvoller Verein, daß er schon des öfteren in der Literatur als
Drahtzieher im Hintergrund der Weltgeschichte herhalten mußte (U. Eco: Das Foucaultsche
Pendel; R.A. Wilson: Illuminatus) Die seltsamen Ritter waren
dafür bekannt, daß sie diverse Köpfe anbeteten, denen die gleichen Eigenschaften wie
dem Gral zugeschrieben wurden. Außerdem hält sich hartnäckig das Gerücht eines
gewaltigen Welteroberungsplans, was letztendlich auch zur Auflösung des Ordens führte.
Die Templervereinigung ist heutzutage angeblich zerschlagen; vielleicht wirken ihre
Mitglieder aber auch, gestützt durch die lebensverlängernden Kräfte des Grals, heute
noch immer im Hintergrund. Von alten Mythen trennt man sich halt nicht so gern.

Genau hier setzt auch Azrael's Tear auf. Die Templer sind nämlich gar nicht ausgestorben,
sondern haben sich in einer Gruppe von zwölf Mann mitsamt dem Becher in eine
unterirdische Anlage zurückgezogen. Dort warten sie auf die Erfüllung einer uralten
Prophezeiung, um dann endlich den lang gehegten Welteroberungsplan zu Ende führen zu
können.
Die alte Prophezeiung kündigte nämlich vom Kommen eines heiligen Diebes, der so
unglaublich gerissen sei, daß er die schwierigsten Rätsel lösen könne, sich todesmutig
in jede Gefahr begäbe und der einzige sei, der den Gral an die darbende Menschheit
übergeben könne. Keine Frage, die Rede ist von einem Computerspiele-Freak der 90er
Jahre.
Wo ist der Bempel, im Tempel?
Im Jahr 2003 verändert sich die Erde. Nach jahrhundertelanger Überstrapazierung der
Atmosphäre setzt die Kontinetaldrift wieder verstärkt ein, und Mother Earth führt sich
auf wie in ihrer Jugend. Schwere tektonische Beben verändern das Aussehen der Kontinente:
Berge versinken im Meer, versunkene Inseln tauchen dafür wieder auf, Flüsse trocknen
aus, und wo vorher Wüste war, strömen nun reißende Fluten dahin. Im Zuge der
landschaftlichen Veränderungen wird jede Menge geschichtliches Material an die
Oberfläche gespült, und die komplette Historie der Menschheit muß umgeschrieben werden.
Auch das Berufsbild des klassischen Archäologen hat einige Veränderungen erfahren. Im
Zuge der Dudenreform von 1999 wurde zunächst einmal die schwere Schreibweise vereinfacht.
Statt Archäologe sagt man nun Raptor, was irgendwie schon mal fetziger klingt.
Zur Ausübung des Raptorenhandwerks reichen auch nicht mehr der Schlapphut und die
Lederpeitsche. Der moderne Mythenforscher trägt einen MS-2-Helm mit integriertem
Bordcomputer, Navigationshilfe, Head-Up-Display, Lebenserhaltungssystemen und last but not
least einer vollautomatischen Wumme.
Der Spieler übernimmt die Rolle eines solchen Raptors und begibt sich auf Aufforderung
eines Freundes nach Aeternis, wo der letzte bekannte Aufenthaltsort der Tempelritter
liegen soll. Dort angekommen, muß man zunächst einmal feststellen, daß der
briefeschreibende Freund mittlerweile verschwunden ist und außer zwei Kritzelzetteln
nichts zurückgelassen hat.
Aeternis entpuppt sich als unterirdisches Gangsystem von immensen Ausmaßen. Die ganze
Anlage ist von dinosaurierähnlichen Wesen bewohnt und gleicht einer Tempelanlage mit
angeschlossenem Steinbruch. Während der Held durch die Gänge marschiert und die komplexe
Maschinerie und Architektur bewundert, gibt es des öfteren lose Seiten eines Tagebuchs zu
finden.

Nach kurzer Zeit erfährt man, daß hier tatsächlich der Aufenthaltsort der immer noch
lebenden Templer und ihres heiligen Gefäßes ist. Auch die Existenz der Saurier erklärt
sich schnell. In Aeternis wurde nicht nur der Gral aufbewahrt, sondern auch der Gralstein
abgebaut, aus dem der Kelch gefertigt wurde. Dieses Gestein, durch Gottes Hand oder einen
Meteoriteneinschlag auf die Erde gelangt, hat tatsächlich lebensverlängernde Wirkung.
Die Saurier konnten sich beim Erbauen der Anlage einschleichen und sterben ob des
Gralsteins auch nicht aus.
Außerdem erfährt man von der Legende des heiligen Diebes, der einen ominösen Test zu
bestehen hat. Seine Aufgabe besteht darin, in einer Art Schnitzeljagd den von den Templern
versteckten Gral zu finden. Dazu gilt es, diverse Maschinen zu reparieren, Türen zu
öffnen oder Inschriften zu deuten. Adventurefans kennen das.
Während der Held sich voller Eifer am Test beteiligt, stößt er nach einer Weile auf die
Templer. Wie sollte es auch anders sein, wenn man ein Dutzend alte, religiöse Starrköpfe
für Tausende von Jahren unter der Erde wegschließt? Bei Ritters geht es zu wie in der
Lindenstraße und Dallas zusammen. Jeder mißtraut jedem und versucht, den anderen
hereinzulegen.
Weg vom Humpen, ihr Lumpen!
Waren die Templer früher mal ein echt cooler Geheimbund, so stellen sich die noch
lebenden Ritter mittlerweile an wie ein Rentnerclub auf Kaffefahrt, dem gerade eröffnet
wurde, daß nur ein Stück Kuchen da ist. Der Anführer der Templer, Tobias, ist ein
ziemlich verschlagener Bursche, der schon mit seinem ersten Auftritt verrät, daß er
gewaltig Dreck am Stecken hat. Er erzählt dem Helden von Baphomet, dem Herrn von
Aeternis, sowie von einem geheimnisvollen Agenten, der auf den Namen Cobweb hört und es
sich zur Aufgabe gemacht hat, wichtige Hinweise des Tests verschwinden zu lassen.
Im Laufe der Geschichte findet man jedoch heraus, daß sowohl Baphomet als auch Cobweb nur
Phantasiegestalten des Templerbosses sind. Der Ritter Edgar bewahrte ein wichtiges
Geheimnis in einer Truhe auf, die allerdings von irgend jemandem geplündert wurde. Klar,
daß Edgar denkt, man selbst sei der Dieb!
Philipe ist ein rechtes Weichei und glaubt noch immer an den heiligen Auftrag der Templer.
Ob der Gral allerdings wirklich das Werk Gottes ist, da hegt der religiöse Mann
mittlerweile seine Zweifel. Und der Ritter Tallum leidet unter schweren Depressionen, seit
er seinen Templerkumpel Guy verraten hat.
Jeder unter den Rittern versucht natürlich, dem Helden seine Story als die einzig wahre
zu verkaufen, und man muß durch geschicktes Taktieren und mit Diplomatie versuchen, den
wahren Kern der Geschichte herauszufinden.
Die Handlung beschränkt sich jedoch nicht nur auf das Finden und Bequatschen der Ritter.
Nebenbei muß auch noch der Test bestanden werden. Hier findet der Adventurefan alles, was
beim Knobeln Spaß macht. Angefangen bei klassischen Logik- und Schloßpuzzles, sind es
aber vor allem die mechanischen Rätsel, die begeistern.
Die komplette Anlage wird durch ein komplexes System von Heißwasserleitungen betrieben.
Da gibt es Dampfboote, Kräne, Steinzerkleinerungsanlagen, vorsintflutliche
Videoprojektoren, Solaranlagen, Abhörvorrichtungen, Beobachtungssysteme auf Spielebasis
und, und, und! Getreu der Nintendo-Maxime "Ein guter Held ist auch ein guter
Klempner", gilt es, zunächst die Mechanik in Gang zu bringen und sie danach sinnvoll
einzusetzen. Das Tolle daran ist die Technik, mit der die Rätsel in Szene gesetzt werden,
denn Azrael's Tear ist weitaus mehr als ein herkömmliches Point-and-Click-Adventure.
Echt klasse, die Hatz nach der Tasse
Bei der Steuerung des Adventures hat man sich bei Mindscape eine Menge einfallen lassen.
Azrael's Tear spielt in einer 3D-Umgebung, die sich wirklich sehen lassen kann. Wie schon
bei Normality bewegt sich der Spieler völlig frei durch die heiligen Hallen und kann
seinen Blick in jede beliebige Richtung schwenken. Das geht zwar nicht ganz so zügig wie
bei First-Person-Ballerspielen, dafür wird aber mit einer unglaublichen Menge
stimmungsvoller Hi-Res-Texturen aufgewartet. Das Game sieht am besten in 640x480er
Auflösung aus - aber bevor jetzt die 386er-Fraktion entsetzt aufstöhnt: Das ist durchaus
spielbar! Um die gewaltigen Datenmengen in den Griff zu bekommen, haben sich die
Programmierer extreme Mühe gegeben. Aeternis ist in lauter kleine Zonen aufgeteilt, die
beim Betreten einer solchen nachgeladen werden. Das geht ziemlich schnell, und während
des Ladevorgangs werden wichtige Daten über die Beschaffenheit der Zone eingeblendet.
Bei der Bewegung in den Räumen sorgt eine dynamische Auflösung für flüssigen
Spielablauf. Während der Bewegung schaltet der Bildschirm eine Auflösungsstufe herunter,
was zur Orientierung durchaus ausreicht. Bleibt der Spieler stehen, um etwas genauer in
Augenschein zu nehmen, dann schaltet die Auflösung wieder hoch, und man kann die ganze
Pracht der stimmungsvollen Räumlichkeiten bewundern. Das funktioniert auch, wenn sich der
Spieler mit einem Boot oder Wagen bewegt.
Die Suche nach Schaltern oder Hinweisen erfordert ein aktives Untersuchen der
Räumlichkeiten. Wer einfach nur den Bildschirm systematisch mit der Maus abfährt, wird
hier nichts erreichen. Die restliche Bedienung und die Dialoge folgen "normalen"
Adventureregeln, alles ist supereinfach zu bedienen.
Die Rätsel sind so knackig wie schon lange nicht mehr, das zu erforschende Gelände ist
riesig, die Story ist spannend und durchweg logisch aufgebaut. Das Erfolgserlebnis
schließlich, wenn man soeben eine Dampf-Krananlage repariert hat und die funktonierende
Apparatur aus allen Blickwinkeln in Aktion bewundern kann, weckt Erinnerungen an die
ersten Bauerlebnisse mit dem Lego-Kasten.
Das Loch in der Tasse
Kein Zweifel, Azrael's Tear ist eines der stimmungsvollsten, bestaussehenden und
knackigsten Adventures seit langem. Um so ärgerlicher ist es, daß die deutsche
Synchronisation so gründlich verpatzt wurde. Wenn zum Beispiel einer der angeblich
tausend Jahre alten Gralswächter plötzlich mit der Stimme eines Teenagers redet, dabei
hörbare Schwierigkeiten hat, vom Blatt abzulesen, das er vermutlich vor einer
Viertelstunde das erste Mal gesehen hat, und schließlich noch krampfhaft versucht, einen
österreichischen oder französischen Akzent hinzulegen, schrecken bestimmt auch
hartgesottenste Spieler entsetzt zurück. Dummerweise gibt es keine Untertitel, und man
muß sich dieses dilettantische Gesülze auf jeden Fall anhören, wenn man das Spiel
lösen will. Dafür gibt es schwere Abzüge in der Pflicht!
Insgesamt jedoch hat Azrael's Tear so viele gute Ideen und Eigenschaften, daß es trotzdem
extrem spielenswert bleibt. Ohren zu und durch!
Was uns auffiel:
+ sehr gute Optik
+ stimmungsvolle Story
+ gelungene Rätsel
- grauenvolle Synchronisation
Bewertung:
- Grafik: 4 von 5
- Sound: 2 von 5
- Komfort: 4 von 5
- Gesamt: 4 von 5
Systemvoraussetzungen:
486/33, 4 MB RAM, SVGA, ca. 25 MB auf der Festplatte
Hersteller: Mindscape
tom
PC-Spiel, © 10/96
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